Postaggressionssyndrom
Drei Phasen

Der Postaggressionsstoffwechsel

Der Postaggressionsstoffwechsel ist eine Reaktion des Organismus auf ein erlittenes Trauma mit dem Ziel, den Körper trotz Verletzung "fit for fight" zu halten. Der Körper versucht also, Flucht oder "sich und Andere in Sicherheit bringen" zu ermöglichen. Diesen Mechanismus gibt es seit der Urzeit. Heute können damit z. B. Handlungen von Menschen erklärt werden, die, obwohl sie selbst schwer verletzt sind, andere Menschen aus einem brennenden Haus retten. Hier spielen sicherlich auch psychische Vorgänge eine Rolle. Die physischen Vorraussetzungen liefert jedoch die "fit for fight" Einstellung des Körpers.

Der Postaggressionsstoffwechsel wurde unter dem Namen "emergency theory" erstmals 1914 von Canon beschrieben . 1920 und 1930 wurde das Wissen um dieses Phänomen von Bürger und Hoff erweitert. 1932 teilt Cuthbertson das Geschehen in die Ebb- und Flowphase ein. 1940 wurde der Begriff "general adaption syndrom" von Selye eingeführt. 1950 wurden die Phasen von Cuthbertson durch Moore auf 4 Phasen erweitert. Weitere Veröffentlichungen führten dann 1992 dazu, dass der Begriff Postaggressionsstoffwechsel oder -syndrom durch den Begriff "Systemic inflammatory response syndrom" (SIRS) abgelöst wurde.

Lange Zeit dachte man, dass nach einem Trauma/OP/Akutereignis der Postaggressionsstoffwechsel bewirkt, dass in den ersten Tagen keine Nahrung aufgenommen werden kann. Die Patienten wurden dementsprechend für die ersten Tage ihrer Erkrankung mit einer Nahrungskarenz belegt. In dieser Zeit wurde auch keine parenterale Ernährung durchgeführt, da ständige Blutzuckerentgleisungen zu beweisen schienen, dass der Körper in dieser Phase nicht in der Lage ist mit Nährstoffen umzugehen, bzw. durch die Nährstoffzufuhr weiterer Stress auf den Körper ausgeübt wird.

Nahrungskarenz hat bei kranken Menschen andere Auswirkungen als bei Gesunden. Während beim Gesunden die Stoffwechselvorgänge an die verminderte Nahrungszufuhr angepasst werden und der Betroffene evtl. unter verminderter Leistungsfähigkeit aufgrund des verlangsamten Stoffwechsels leidet. Die Energiebereitstellung erfolgt über den (langsamen) Abbau von Körperfett bereitgestellt. Beim Kranken wird Körpereiweiss abgebaut um schnell ausreichend Glucose als Energieträger für das Gehirn und die Nerven zur Verfügung zu haben.

Die Ausprägung der verschiedenen Phasen des Postaggressionssyndroms korreliert mit der Schwere des erlittenen Traumas. In leichten Fällen verläuft der Mechanismus unbemerkt oder es stellt sich für kurze Zeit ein erhöhter Blutzuckerspiegel ein. Die anabole Phase wird jedoch gerade von älteren Patienten auch nach kleineren Eingriffen bemerkt und als Zeit "in der man noch sehr von dem Eingriff geschwächt ist" beschrieben.

Der Energiebedarf steigert sich über die beiden ersten Phasen auf ein Maximum, das bis 60% über dem normalen Grundumsatz liegen kann und in der anabolen Phase wieder auf Normalniveau absinkt. Die Energiezufuhr bei einem Patienten im Postaggressionssyndrom sollte der jeweiligen Phase angepasst sein.

Phasen des Postagressionsstoffwechsels

Heute werden drei Phasen des Postaggressionsstoffwechsels unterschieden, die durch den Verlauf verschiedener Parameter gekennzeichnet sind:

Aggressionsphase

Diese Phase wird auch Akutphase oder "injury" genannt. Sie schließt sich dem Trauma direkt an und dauert etwa 12-24 Stunden. Es besteht ein erhöhter Sympathikotonus, der bewirkt, dass der Körper mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Glucagon, Cortison und Katecholaminen reagiert (Fluchtreaktion), welche ihrerseits die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse hemmen. Es besteht ein extremer Insulinmangel. Gleichzeitig wird die Gluconeogenese gefördert, um eine ausreichende Versorgung der Organe mit Glucose zu gewährleisten. Durch eine gleichzeitige Überproduktion von Glucose aus vorhandenen Glycogenreserven wird gewährleistet, dass der Körper in der Lage ist Vorgänge, wie z. B. die Wundheilung, aufrecht zu erhalten und die Organe (Zentrales Nervensystem, Nierenmark, Blutzellen), die ausschliesslich auf die Energiebereitstellung aus Glucose angewiesen sind, weiterarbeiten können. Organe die nicht auf Glucose als Energieträger angewiesen sind, entwickeln eine Insulinresistenz und können so keinen Blutzucker mehr aufnehmen. Dadurch wird die Konzentration von Glucose im Blut weiter erhöht. Diese Organe (z. B. Muskulatur) werden mit freien Fettsäuren (FFS) als Energielieferanten versorgt. FFS stehen durch die gesteigerte Lipolyse in vermehrtem Maße zur Verfügung.

Postaggressionsphase

Diese zweite Phase heisst auch katabole Phase oder "turning point". Sie dauert einige Tage und ist gekennzeichnet durch einen gesteigerten Ruheumsatz. Körpereigenes Eiweiss muss für die Aurechterhaltung der Gluconeogenese abgebaut werden. Die Glycogenvorräte des Körpers sind in der Akutphase (nach 24 Std.) verbraucht, so dass eine andere Energiequelle genutzt werden muss. Da der Körper durch die Lipolyse von Triglyceriden (-> 1x Glycerin + 3x FFS) nicht ausreichend Glucose generieren kann, ist er auf Aminosäuren angewiesen, die aus der Muskulatur oder aus anderen Eiweissen im Körper (z. B. Enzyme) rekrutiert werden müssen. Daraus resultiert wiederum ein Körpersubstanzverlust.
Die Insulinproduktion wird weiter durch antiinsulinäre Hormone gehemmt, wenn auch nicht so stark wie in der Aggressionsphase.
Durch eine enterale Proteinzufuhr kann der Abbau von Eiweiss in der katabolen Phase nicht vollständig gestoppt werden. In Untersuchungen an Traumapatienten konnte jedoch gezeigt werden, dass Patienten, die Proteine erhielten, eine höhere Überlebenschance hatten.

Reparationsphase

Der Hypermetabolismus und die Ausschüttung der Stresshormone gehen in dieser Phase allmählich zurück. Die Insulinproduktion kann wieder stimuliert werden und die Substratwerte im Blut fallen auf normale Spiegel zurück. Der Stoffwechsel ist nicht mehr katabol sondern wird wieder anabol. Diese Phase kann Wochen bis Monate dauern. In dieser Phase haben Patienten weiterhin einen hohen Energie- und Eiweissbedarf welcher in den Reparationvorgängen in den Zellen (Muskelaufbau) und der zunehmenden körperlichen Aktivität (Mobilisation, Rehabititationsmaßnahmen) begründet ist. Diese Phase dauert selbst auch nach der Entlassung aus der Klinik in eine Rehabilitationseinrichtung oder in die häusliche Umgebung noch an.

Bedeutung für die Versorgung und die Pflege

Patienten, die mit einem Schockzustand auf ein erlittenes Trauma oder eine Operation reagieren, entwickeln ein Postaggressionssyndrom oder SIRS. Das heisst, dass diese Patienten, ernährt werden müssen. Sobald keine Kontraindikationen mehr vorliegen auch enteral. Das bedeutet nicht, dass diese Patienten so schnell wie möglich ausschliesslich enteral ernährt werden müssen und es bedeutet auch nicht, das der Kostaufbau immer in der idealen Form vonstatten gehen kann.
Vielmehr soll durch Nährstoffzufuhr, also angepasste enterale Kost auf niedriger Stufe (z. B. 10-20 ml/h) die Versorgung des Darms mit Nährstoffen aufrecht erhalten werden um der Darmatrophie und der damit möglichen Translokation von Keimen vorzugebeugen. Mit enteraler Nährstoffzufuhr wird dem Körper die Möglichkeit gegeben mittels exogen zugefügter, schnellverfügbarer Nahrungsbaustoffe der Katabolie entgegenzuwirken. Die Krankenhausverweildauer kann somit verkürzt werden, da der Schwächung des Patienten wird positiv entgegengewirkt wird.
Die enterale Substratzufuhr sollte schon am Ende der Akutphase (also nach max. 24 Std.) begonnen werden. Das bedeutet zu Beginn der Zufuhr befinden sich der Patient bereits in der Postaggressionsphase. Jetzt treten all die Symptome und Komplikationen der enteralen Substratzufuhr auf, die häufig zu Abbruch der Applikation führen. Diese Schwierigkeiten können jedoch durch geeignete Maßnahmen so minimiert werden, so zumindest die Substratzufuhr gewährleistet ist.
  • Der Patient hat einen erhöhten BZ-Spiegel (egal ob bei enteraler oder parenteraler Ernährung)
  • Der Patient führt nicht ab/ der Darm steht still/keine Darmgeräusche
  • Der Patient kann die Nahrung nicht transportieren und hat einen hohen Reflux
Mögliche Lösungen
  • Kontinuierliche Insulinzufuhr über Perfusor um den BZ-Wert im normalen Rahmen zu halten.
  • Das bedeutet natürlich auch regelmäßige BZ-Kontrollen (2x Schicht) und die entsprechende Reaktion, wenn der BZ nicht im Rahmen ist.
  • Regelmäßige Gabe von Laxantien, Anwendung von Einlauf oder Klistieren, PP-Perfusor.
  • Kontinuierliche 30° Oberkörperhochlagerung, ggf. bei Applikation der Sondenkost in den Magen Pausen einlegen (intermittierend ernähren), damit die Ernährung bei eingeschränkter Transportleistung in den Darm abfliessen kann.
  • Erythrocin
  • Spätestens alle 3 Tage abführen
  • 1x pro Schicht Darmgeräusche abhören


In der Reparationsphase kann die Ernährung i. d. R. auf orale Kost umgestellt werden. Die Wünsche des Patienten sollten dabei im Vordergrund stehen, solange keine medizinischen Kontraindikationen gegen bestimmte Speisen bestehen.
In dieser Phase sollte weiterhin auf eine ausreichende Kalorienzufuhr (35 Kcal/kg/KG) geachtet werden und die oralisierte Ernährung ggf. mit Sondenkost oder parenteraler Ernährung ergänzt werden.